Buddhismus

„Die Tatsache, dass der Mensch neben der Gesamtheit seiner mentalen und emotionalen Erfahrungen oder Wahrnehmungen einen Begriff "Ich" produziert, beweist nicht, dass hinter einem solchen Begriff eine spezifische Existenz stehen muss. Wir erliegen den Illusionen, die unsere selbst geschaffene Sprache erzeugt, ohne dass wir etwas besser verstehen. Der größte Teil der sogenannten Philosophie ist auf diese Art von Irrtum zurückzuführen.“
                                                                              Albert Einstein

Nachdem ich als Mönch in einem japanischen Zen-Kloster gelebt habe, bin ich oft über die Vorstellungen, die es in Europa über den Buddhismus gibt, erstaunt. Es scheint zum Teil mit der üblichen Einordnung als eine der Weltreligionen zusammenzuhängen und auch das asiatische kulturelle Zubehör verschleiert, worum es eigentlich geht. Buddhismus ist schlicht ein pragmatisches, intelligentes System, die grundlegende Unzufriedenheit des Menschen aufzulösen. Es ist irreführend, den Buddhismus als Religion zu bezeichnen, da er etwas völlig anderes ist als das, was wir normalerweise in Europa unter Religion verstehen, wie zum Beispiel metaphysische Dogmen oder festgelegte Glaubenssätze. Sogar in der modernen Wissenschaft mit ihrem immer noch vorherrschenden materialistischen Weltbild gibt es mehr metaphysische Dogmen als im Buddhismus, wo das Universum aus Formen, Farben, Geräuschen, Gerüchen, Geschmack, Gefühlen und Gedanken besteht. Die Existenz von Materie als Bedingung für Erfahrung entpuppt sich spätestens im Zeitalter der virtuellen Realität als dogmatische Glaubensvorstellung, die sich durch nichts belegen lässt. Auch die Vorstellung, dass es im Zentrum der Erfahrung ein Subjekt gibt, wird im Buddhismus als finsterster Aberglaube betrachtet.
Der berühmte Satz von Descartes - „ich denke, also bin ich“ - ist eine logische Fehlleistung, was sofort klar wird, wenn man mit der gleichen Logik sagt: Es regnet, also ist es. Obwohl Descartes seine Schlussfolgerung bereits als Prämisse vorausgesetzt hat, wird dieser Unsinn seit Jahrhunderten als große philosophische Leistung gefeiert, da wir den Glauben an ein handelndes Subjekt so verinnerlicht haben, dass sich der Satz logisch anfühlt, obwohl er es nicht ist. Aus der Existenz von Gedanken lässt sich logisch genauso wenig ein handelndes Subjekt herleiten wie aus dem Herunterfallen von Wassertropfen.

Wenn man sich einmal vorstellt, dass man gerade eben geboren wurde und noch kein einziges Wort kennt, was ist dann das vor unseren Augen?
Gibt es da wirklich ein wahrnehmendes Subjekt?
Und gibt es da irgendwelche Probleme?
Gibt es da auch nur so etwas wie „Zeit“ und „Raum“?
Die Erfahrung, bevor die Sinneseindrücke durch unsere Begriffe interpretiert werden, wird manchmal im Buddhismus als „Realität“ bezeichnet.
Mit der Zeit fängt ein Baby an, Worte zu verstehen. Das sind kulturelle Erfindungen, mit denen Menschen versuchen, die bunte Formenwelt um uns herum zu beschreiben. Scheinbar liegt die Bedeutung der Worte in der Realität begründet, aber tatsächlich ist die Realität frei von jeder Bedeutung. Sinn oder Bedeutungsinhalte werden in die Realität hineinprojiziert und legen sich wie ein dichter Schleier darüber. Auch das Wort „Realität“ ist nur eine abstrakte Idee. Nichts hat von sich aus eine Bedeutung, sondern diese wird erst durch Worte geschaffen. Die Bedeutung liegt im Auge des Betrachters. So wie jemand, der in den Wolkenhimmel schaut und den einzelnen Wolken Namen gibt. Niemand würde glauben, dass die Wolken wirklich so heißen, geschweige denn ein Drama daraus machen, was mit den einzelnen Wolken passiert. Wer einmal eine Sprache aus einer fremden Sprachfamilie gelernt hat, kennt die Faszination, wenn man feststellt, wie bestimmte Wörter nicht übersetzbar sind, weil es in der anderen Sprache einfach kein Wort gibt, das auch nur annähernd eine vergleichbare Bedeutung hat. 
Es gibt einen riesengroßen Unterschied zwischen der Realität und der Beschreibung, sowie eine Landkarte nicht das Gleiche ist wie die Landschaft und eine Speisekarte etwas anderes ist als der Geschmack des Essens.
Die Ekstase und das grundlose Glück, das man in den Augen von kleinen Kindern bewundern kann, sind unser natürlicher Zustand, der mit der Zeit verloren geht, weil wir statt der Realität mehr und mehr unsere eigenen Projektionen wahrnehmen und diese zunehmend eine Bewertung beinhalten. Die ganze Welt wird in positiv und negativ aufgeteilt und das Leben wird zu einem nie endenden Kampf. Ohne es zu merken, verfangen wir uns im Netz unserer eigenen bedeutungsschweren Gedanken. Vor allem die Idee eines vom Rest des Universums getrennten „Ich“ ist die Wurzel aller Probleme. Es fliegen nicht irgendwo entlaufene herrenlose Probleme durchs All, sondern sie brauchen einen Besitzer, um existieren zu können. Das Universum ist weder „gut“ noch „schlecht“. Es ist einfach das, was es ist.
Dabei sind nicht die Begriffe das Problem, die zweifellos nützlich sind, wenn wir zum Beispiel einen Kaffee bestellen wollen. Probleme und Unzufriedenheit entstehen, weil wir die in unserer Kultur erlernten Beschreibungen für die Wahrheit halten, statt sie als das Fantasiegebilde zu sehen, das sie sind. Sobald wir die Augen öffnen, sehen wir statt Formen und Farben eine Welt, die aus unseren eigenen Projektionen besteht, und werden, ohne dass wir es auch nur bemerken, zum Opfer unserer eigenen betonierten Weltanschauung. 
Die gute Nachricht ist, dass es möglich ist, unseren natürlichen Zustand des Nirwanas wiederzufinden, indem wir uns von diesen Projektionen befreien und die tief sitzenden Denkgewohnheiten und Konditionierungen, die uns den Blick auf die Realität vernebeln, auflösen. Das bedeutet nicht, dass man nicht mehr klar denken kann, sondern das Denken hört nur auf, ein Gefängnis zu sein. Wenn wir kein Sklave unseres eigenen Denkens sind und es keine übertriebene Aufmerksamkeit bekommt, wird der Geist weich und flexibel und es gibt weder „Zufriedenheit“ noch „Unzufriedenheit“. 
Vor etwa 2500 Jahren ist ein Inder namens Siddhartha Gautama aus der Traumwelt seiner eigenen Projektionen „erwacht“ und wurde später mit dem Sanskritwort „Buddha“ bezeichnet, was „der Erwachte“ bedeutet. Seitdem hat es viele weitere „Buddhas“ gegeben.

Einige klassische buddhistische Begriffe haben sich in den letzten beiden Jahrtausenden bewährt und sind hilfreich, um etwas weiter einzusteigen:

Upaya                           

 „Was Dada ist, wissen nicht einmal die Dadaisten, sondern nur der Oberdada - und der sagt es niemandem!“
                                                                                            Johannes Baader

Das Sanskritwort „Upaya“ bedeutet so etwas wie geschickte oder nützliche Hilfsmittel. Wenn alle Begriffe und Ideen als Projektionen durchschaut werden, erübrigt sich die Einteilung von bestimmten Lehren in „richtig“ oder „falsch“.
Sie können aber nützlich oder hilfreich sein, zum Beispiel, indem sie darauf hinweisen, dass eine Vorstellung oder Weltsicht, an die sich jemand klammert, vielleicht doch nicht so in Stein gemeißelt ist, und einen Weg aufzeigen, wie sie transzendiert werden können. 
Daher gibt es für die buddhistischen Lehren auch die Metapher der Medizin, die lediglich dafür gut ist, eine bestimmte Krankheit zu heilen, während sie für andere Krankheiten völlig unnütz oder sogar schädlich ist. Wenn die Krankheit geheilt wurde, muss man aufhören, die Medizin zu nehmen, sonst macht sie einen krank. Wie ein Boot, mit dem man ein Gewässer überquert hat, lässt man den Buddhismus hinter sich zurück, wenn er seine Funktion erfüllt hat. Die Lehren sind nicht dafür gedacht, die alten Glaubensvorstellungen durch neue Wahrheiten abzulösen. Wenn jemand ganz fest an die buddhistische Lehre glaubt, ist etwas nach hinten losgegangen. Es ist, als wenn jemand das Rezept für eine Medizin herunterschluckt. Die Vorstellung, dass alle Worte nur Projektionen sind, ist eine Illusion, aber sie kann dabei helfen, andere Illusionen zu durchschauen.
Da sich die eigentlich als provisorisches Hilfsmittel gemeinten Lehren trotzdem gerne dogmatisch verfestigen, gibt es ganze Bibliotheken mit buddhistischen Schriften, in denen andere buddhistische Lehren negiert, widerlegt und verflucht werden, bis auch die letzte Spur einer Idee dekonstruiert ist. Ein berühmter chinesischer Mönch hat sogar gesagt, dass er den historischen Buddha totgeschlagen und ihn den Hunden zum Fraß vorgeworfen hätte.
Am Ende kommt man hinten wieder raus und eine Rose ist eine Rose, weil sie keine Rose ist - oder so ähnlich.
Ein Studium der Schriften als rein intellektuelle Beschäftigung ist sinnlos. Das ist so, wie in ein Restaurant zu gehen, das Menü zu lesen und dann wieder rauszugehen. Es geht nicht darum, irgendetwas zu verstehen, sondern darum, es tatsächlich selbst zu schmecken. Die gesamte buddhistische Lehre besteht nur aus provisorischen Hilfsmitteln, die je nach Situation nützlich und hilfreich sind oder eben nicht.

Dukkha

„Life is a bitch and then you die.“

 
„Dukkha“ wird traditionell mit „Leiden“ übersetzt, was aber nur sehr grob die Richtung trifft. Es umfasst jede Form von Unwohlsein, Stress, Unzufriedenheit, Sehnsucht, Frust, Angst, Krankheit, Tod - das ganze Programm, alles, was wir nicht haben wollen.
Wenn man weiß, dass Dukkha auch Glück und Zufriedenheit sein kann, wird klar, dass der Begriff nicht so leicht zu übersetzen ist. Die Idee dahinter ist, dass jedes relative Glück, das von momentanen Umständen abhängt, nicht nachhaltig ist und sich unausweichlich wieder in sein Gegenteil verwandeln wird. Außerdem enthält diese Art von abhängiger Zufriedenheit immer eine subtile Angst vor dem sicheren Ende der entsprechenden Umstände.
Erstaunlicherweise macht es für den Grad unserer Zufriedenheit oder Unzufriedenheit keinen Unterschied, ob wir auf einer Luxusyacht oder auf einem Nagelbrett sitzen, obwohl wir das intuitiv ganz anders bewerten.
Manchmal wird der Buddhismus wegen seiner Betonung auf das „Leiden“ als pessimistisch angesehen, aber es geht nur darum, die Situation realistisch zu sehen, die Ursache zu erkennen, um dann eine Lösung zu finden. Im Gegensatz dazu besteht der Großteil der modernen westlichen Kultur darin, die Situation zu verdrängen. Aber Konsum, Unterhaltung, Alkohol, Arbeit oder sogar "Spiritualität" zu benutzen, um seinen eigenen Gefühlen, der Langeweile, Einsamkeit oder der Angst vor dem Tod davonzulaufen, funktioniert letztlich nicht.

Avidya

 „The day you stop racing, is the day you win the race.“                                             
                                                                                                          Bob Marley

„Avidya“ wird als Ursache für Dukkha angesehen und traditionell mit „Unwissenheit“ oder „Verblendung“ übersetzt. Auch hier gibt es ein Problem mit der Übersetzung: Mit „Unwissenheit“ ist hier gar nicht gemeint, dass wir etwas nicht wissen. Es ist im Gegenteil der falsche Glaube oder die Illusion, etwas zu wissen. „Missverständnis“ wäre also passender, und zwar das Missverständnis, die vom eigenen Geist geschaffenen Unterscheidungen und Definitionen für die Wirklichkeit zu halten. Was fehlt ist nicht noch irgendein zusätzliches Wissen, sondern die Weisheit, all unser angesammeltes Wissen als relativ und letztlich als Selbsttäuschung zu erkennen. Unser Wissen ist zwar ein praktisches Werkzeug, aber nicht die Wahrheit. Hinter jedem Unglück und jeder Unzufriedenheit steckt eine Idee, mindestens die Idee, dass es ein „Ich“ gibt, und meistens noch ein ganzer Haufen anderer Wahnsinn. Die Ursache für unser Elend liegt niemals in den äußeren Umständen, obwohl unsere gesamte Kultur uns das ständig einflüstert, sondern immer in uns selbst. 
„Himmel“ und „Hölle“ sind ein Produkt unseres eigenen Geistes.

Verblendung erzeugt Wünsche und Abneigungen, Liebe und Hass. 
Nachdem wir das Universum durch unsere fantasievollen Erfindungen in verschiedene Schubladen aufgeteilt haben, werden diese bewertet und in zwei Lager eingeteilt: Die, die wir haben wollen und die anderen, die wir nicht haben wollen, gut und böse, plus und minus. Dann laufen wir wie die Esel hinter der Karotte her und versuchen die Plus-Seite zu bekommen und die Minus-Seite loszuwerden. Was ich hab’, das will ich nicht, und was ich will, das krieg’ ich nicht. Und selbst wenn wir es geschafft haben, die gesamte Minus-Hälfte im Universum loszuwerden, teilen wir sofort die verbleibende Plus-Hälfte wieder in zwei Hälften auf und rennen weiter im Hamsterrad. Vor allem in uns selbst finden wir ständig Gefühle und Gedanken, die wir gern haben und die anderen - eigentlich absurd, wenn ein Teil von uns einen anderen Teil beobachtet und bewertet. Unser Ego sagt uns, dass wir dieses oder jenes erreichen müssen, und ohne Pause suchen wir den Heiligen Gral hinter den sieben Bergen und sehen nicht, dass wir ihn in der Hand halten. 
Ausgerechnet im Zen-Kloster habe ich das erste Mal in meinem Leben erfahren, was es heißt, wirklich grundlos glücklich zu sein, obwohl die äußeren Umstände eher unerquicklich sind, mit Frostbeulen im Winter und harter Arbeit in der japanischen Sommerhitze.
Die eigenen Bewertungen als Projektion zu erkennen, heißt natürlich nicht, dass dann „alles egal“ ist, was nur eine weitere wahnsinnige Idee ist. Im Gegenteil entsteht ethisches Handeln erst, wenn man aufhört, seinem vermeintlichen Vorteil hinterherzurennen und seine „Wahrheit“ durchzusetzen. 

 Sunyata

 „Heilsam ist das Verstummen aller Ideen. Das Ende der Projektion von Konzepten auf die Realität ist Frieden. Der Buddha hat keine Lehre verkündet.“
                                                                                                                      Nagarjuna

Das Münchhausen-Trilemma besagt, dass wir letztlich nichts begründen können, da jeder Versuch, etwas letztendlich zu begründen, entweder in einem logischen Zirkelschluss, einem infiniten Regress oder einer Dogmatisierung endet. Aber nicht nur das, schon der Versuch, auch nur ein einziges Wort zu definieren, endet ebenfalls in einem Zirkelschluss oder einem infiniten Regress. Um etwas definieren zu können, brauchen wir andere Begriffe, die ebenfalls erst definiert sein müssen und so weiter. Unser gesamtes Denken ist vollständig auf Sand gebaut, ohne auch nur eine Spur eines festen Fundamentes.
„Sunyata“ wird gewöhnlich mit „Leere“ übersetzt und auch hier ist die Übersetzung problematisch. Gemeint ist eine Substanzlosigkeit in dem Sinne, dass es in einem Universum, in dem sich alles verändert, keinen festen bleibenden Punkt gibt. So wie bei Wellen im Meer gibt es nichts, das eine eigene Essenz oder einen bleibenden Wesenskern hat, inklusive uns selbst. Das bedeutet nicht, dass irgendetwas nicht existiert, sondern nur, dass sich nichts definieren, eingrenzen oder trennen lässt und uns durch die Finger fließt, wenn wir es erfassen wollen, da alles nur relativ und in gegenseitiger Abhängigkeit zu etwas anderem definiert werden kann. Während alles fließt und sich dreht, schwingt, wabert und leuchtet, konstruieren wir kleine Quadrate und schrauben Griffe dran. „Sein oder Nichtsein“ sind intellektuelle Ideen, die erst durch ihren Gegensatz eine Bedeutung gewinnen. Jedes Wort zieht eine künstliche Trennlinie in den Sand, wodurch erst die eine und die andere Seite entstehen. In einem Universum, in dem sich in jeder Nanosekunde alles verändert, sind es einzig unsere abstrakten Begriffe, die uns das trügerische Gefühl geben, dass irgendetwas bleibt. 
Nagarjuna, der die Verbreitung des Begriffes der „Leere“ in Asien verursacht hat, war ein indischer Mönch aus dem zweiten Jahrhundert und wird neben dem historischen Buddha als wichtigste Figur des Mahayana-Buddhismus angesehen. Er hat alle alltäglichen, philosophischen und buddhistischen Ansichten seiner Zeit logisch widerlegt und sich geweigert, selbst eine These aufzustellen. Den von ihm geprägten und häufig verwendeten Begriff der Leere hat er nur als Mittel der Kommunikation angesehen und ausdrücklich davor gewarnt, ihn als eigene Theorie zu verstehen. Auch die „Leere“ hat keine Substanz und ist keine letztgültige Wahrheit. Sie ist selbst leer.
Dabei waren seine logisch philosophischen Abhandlungen kein Selbstzweck, sondern es ging ihm um die Befreiung der Menschen aus ihrem selbstverursachten Unglück.
In tibetischen Traditionen wird oft praktiziert, die eigenen Grundüberzeugungen logisch zu untersuchen. Was ist es denn eigentlich genau, das wir „Ich“ nennen? Wir sagen, dass wir einen Körper und ein Bewusstsein haben. Also ist das „Ich“ irgendwo außerhalb von Körper und Bewusstsein? Wo soll das sein? Oder sind wir Körper und Geist? Aber was genau? Sind wir die einzelnen Teile? Die Gedanken, Gefühle, Herz und Gehirn? Welches Teil genau ist das, was wir „Ich“ nennen und welches nicht? Nach einer Herztransplantation haben wir ein neues Herz, aber was würde bei einer Gehirntransplantation passieren? Wo ist der Wesenskern, der wirklich das „Ich“ ausmacht? Wenn wir den Glauben, das Geschlecht und den Namen wechseln, sind wir trotzdem das gleiche Ich? Ein alter Greis hat außer dem Namen weder körperlich noch geistig irgendetwas mit dem Baby zu tun, das er mal war. Alle Bestandteile sind vollkommen ausgetauscht. Ist das „Ich“ dann ein anderes als vorher? Und wann ist es ein anderes geworden? Gibt es wirklich einen „Denker“, der außerhalb und unabhängig von den Gedanken existiert und wenn ja, was ist das und wo ist der?
Wenn man sich eine Weile ernsthaft und nicht nur oberflächlich intellektuell mit solchen Fragen auseinandersetzt und einem das gewohnte Glaubenskonstrukt, in dem man sich eingerichtet hat, davonschwimmt, kann ein Gefühl der Unsicherheit und Haltlosigkeit entstehen, dass sogar mit körperlichen Symptomen einhergehen kann. Sich an nichts festhalten zu können, kann sich anfühlen wie ein freier Fall ohne Fallschirm. Glücklicherweise gibt es unten keinen festen Boden und irgendwann ist der Flug angenehm und befreiend. Ernsthafte Zweifel an der Existenz eines „Ich“ können Ängste auslösen. Obwohl es nur das illusionäre Ego ist, dem es an den Kragen geht, wehrt es sich mit allen Tricks und hält sich krampfhaft am Lenkrad fest, aber die Angst vor Kontrollverlust beruht auf der verrückten Annahme, dass es zwei „Ich“ gibt, von denen das eine das andere kontrolliert. 
Manche Projektionen haben sich so tief in unserem Unterbewusstsein vergraben, dass wir gar nicht ahnen, dass es sie überhaupt gibt. So wie jemand, der sein ganzes Leben eine grüne Brille getragen hat, keine Ahnung hat, dass es auch andere Farben gibt. Plötzlich die Brille abzunehmen ist dann wie am Rand einer hundert Meter hohen Klippe zu stehen und einen Schritt vorwärtszugehen.

Wenn alle Projektionen verschwinden, ist das auch das Ende von Dukkha.

 Dhyana

 „Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles! Wer das erkennt, der wird glücklich sein, sofort, im selben Augenblick.“

                                                                                                                Fjodor Dostojewski


Aus dem Sanskritwort „Dhyana“ ist das chinesische „Chan“ und später das japanische „Zen“ entstanden und es wird gewöhnlich mit „Meditation“ übersetzt. Allerdings wurde in dem Zen-Kloster, in dem ich gelebt habe, die Idee der Meditation abgelehnt, wenn damit Techniken gemeint sind, die darauf abzielen, besondere Bewusstseinszustände zu erreichen. Stattdessen haben wir „Sitzen“ praktiziert. Mehrmals im Jahr haben wir zusammen eine Woche schweigend vor einer Wand gesessen. Und sonst haben wir gearbeitet.
Grundsätzlich ist es nicht nötig, seinen gewohnten Lebenswandel zu ändern und Buddhist zu werden, sondern man kann einfach auf seinem Bürostuhl oder seiner Luxusyacht oder seinem Nagelbrett sitzenbleiben. Es braucht keine Räucherstäbchen, Mandalas, Bodhisattva-Statuen oder japanische Kutten. 
Eigentlich reicht es aus, die eigene Gedankenwelt und die Existenz eines „Ich“ als Illusion zu durchschauen und von da an glücklich weiterzuleben und später in Frieden zu sterben, aber leider funktioniert das für die meisten nicht oder endet in einer weiteren Selbsttäuschung. Daher sind mit der Zeit Tausende von behelfsmäßigen Techniken entstanden, aber ein großes Sammelsurium an verschiedenen Praktiken und Ritualen braucht man nicht. 
Ein chinesischer Mönch hat jahrelang jeden Morgen in den Spiegel geschaut und sich gefragt: „Meister, bist du wach?“ Dann hat er sich ermahnt: „Lass dich nicht täuschen!“ Das war seine einzige Übung. 
Oder es gibt die Empfehlung, einfach den Tag im Angesicht des Namenlosen zu verbringen.
Ein Mathematiklehrer hat einmal seine Sommerferien bei uns im Kloster verbracht und bekam als einzige Übungsanweisung die Aufgabe, dass er sitzen soll wie ein Idiot. Nach ein paar Wochen flehte er nach irgendeinem zusätzlichen Rat, aber sein Wunsch wurde abgelehnt. 
Im Soto-Zen wird oft gar keine spezielle Technik angewandt, sondern die Übung besteht einfach darin, alles genau so zu lassen, wie es ist, das eigene "Ich" und alle Ideen, einschließlich und vor allem alle buddhistischen Ideen, wegzuwerfen und nicht mehr zu versuchen, irgendetwas zu erreichen oder zu sein. Man versucht einfach, mit allem, was man tut und was passiert, mit dem Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen und Denken, vollkommen eins zu sein, im Sitzen, Stehen, Gehen und Liegen.
Wer das schwierig findet, kann sich auch still hinsetzen und sich auf seine Atmung oder etwas anderes konzentrieren. Wenn man etwas tut, das Aufmerksamkeit erfordert, sollte man sich natürlich nur darauf konzentrieren und nicht auf etwas anderes. An der Bushaltestelle, beim Spazierengehen oder Sonnenbaden, im Wartezimmer oder Flugzeug kann man sich aber auf seine Atmung oder das Geräusch von Wind oder Regen oder Verkehrslärm oder einfach nur auf seine Nasenspitze konzentrieren. Bei der Arbeit kann man voll und ganz und so gut wie möglich seine Arbeit machen. Es gibt keine Sekunde im Leben, wo man nicht ganz bei der Sache sein kann.
Dabei sollte man aufpassen, dass man die Übung nicht zur Selbstoptimierung oder als Mittel zum Zweck missbraucht. Vor allem braucht man nicht sein eigenes Denken unterdrücken. Alles, was es zu erreichen gibt, ist schon da. Wir leben schon im „hier und jetzt“ und haben nie etwas anderes getan. Es gibt kein Nirwana irgendwo hinter den Wolken. Wenn wir mit dem, was heute ist, nicht klarkommen, wird es uns morgen garantiert auch nicht besser ergehen.
Es geht darum, den Abstand zwischen sich selbst und allem anderen zu beseitigen, bis man so damit verschmolzen ist, dass kein „Ich“ mehr übrig bleibt. Alle anderen Projektionen lösen sich dann mit auf.
Auch auf die Frage „wer bin ich“ kann man sich konzentrieren, sowie auch auf jede andere Frage, die einem am Herzen liegt.
Es ist weniger eine Frage der besten Technik als eine Frage der Motivation und der Entschlossenheit. Jeder muss selbst wissen, ob er sich 5 Minuten täglich still hinsetzen will oder ob er an nichts anderes denken kann, bis er die Frage von Leben und Tod gelöst hat. 
Meister Eckhart, Rumi und einige andere hatten niemanden, der ihnen gesagt hat, was sie tun sollen und haben aus eigener Kraft die Dogmen und das Weltbild ihrer jeweiligen Kultur weit hinter sich gelassen. Wenn Meister Eckhart sagt, dass das Auge, mit dem er Gott sieht, und das Auge, mit dem Gott ihn sieht, dasselbe Auge ist, dann hat er sich wirklich von erlernten Denkschablonen befreit und ist sein eigener Meister geworden.
Wer die Sinnlosigkeit von oberflächlichen Annehmlichkeiten und philosophischem oder politischem Gezänk durchschaut, Fragen hat und ernsthaft auf der Suche ist, praktiziert schon Buddhismus. Wer auf alles eine Antwort hat, tut das nicht.
Wenn man nicht glauben kann, jemals ein "Buddha" zu werden, obwohl wir genau das schon sind, braucht man sich keine Sorgen zu machen. Sich erstmal aus dem gröbsten Elend zu befreien ist ein guter Start. Am Ende können wir es nicht verfehlen, das zu werden, was wir ursprünglich sind.
Dabei ist jede Übung nur eine Krücke, die sich am Ende überflüssig machen muss. Buddhistische Praxis muss so weit gehen, dass es niemanden mehr gibt, der etwas praktiziert und alle Ideen von „praktizieren“ oder „nicht praktizieren“ vergessen sind. Wenn man glaubt, angekommen oder erwacht zu sein, versteckt sich immer noch die Idee eines Subjektes darin. Auch „Buddha“ ist eine Projektion. Jede ausgeliehene buddhistische Idee muss an der Garderobe wieder abgegeben werden. 

Dirk Shodo Aleksic



Weitere Literatur:

  • Harada, Sekkei. Zen, Erwachen Zum Wahren Selbst. Heidelberg: Kristkeitz 2004
  • Huang Po. Der Geist des Zen. München: O. W. Barth 2011
  • Renz, Karl. Punkt. Hamburg: Noumenon 2013
  • Soseki, Muso. Gespräche Im Traum. Frankfurt: Angkor 2005
  • Weber-Brosamer, Bernhard/Back, Dieter M. Die Philosophie der Leere, Nagarjunas Mulamadhyamaka-Karikas. Wiesbaden: Harrassowitz 2005





Als Anhang noch ein chinesischer Klassiker, den ich jahrelang jeden Tag in einer englischen Übersetzung gelesen hatte, bevor ich dann später selbst die folgende Übersetzung aus der japanischen Version ins Deutsche versucht habe. Der Text aus dem sechsten oder siebten Jahrhundert wurde von Jianzhi Sengcan verfasst, der im Zen-Buddhismus als einer der ersten chinesischen Buddhas angesehen wird.


Xin Xin Ming

 Verse über den Geist der Gelassenheit    


Der buddhistische Weg ist nicht schwer, wenn man keine Vorlieben hat. 
Wenn es weder Liebe noch Hass gibt, ist alles einfach und klar. 
Aber wenn man den kleinsten Unterschied macht, entsteht eine Trennung wie zwischen Himmel und Erde. 
Wenn man das eine dem anderen vorzieht, sieht man nicht, was man vor Augen hat. 
Der Konflikt zwischen Verlangen und Abneigung ist die Krankheit des Geistes. 
Weil die ursprüngliche Einheit aller Dinge nicht gesehen wird, ist der Frieden des Geistes gestört. 
Alles ist vollkommen wie der blaue Himmel. 
Es fehlt an nichts und es ist nichts zu viel. 
Nur weil wir das eine annehmen und das andere ablehnen, entstehen Probleme. 
Hänge weder an den Objekten der Welt noch an einer Vorstellung von Leere. 
Versuche, mit allem eins zu sein, dann verschwinden solche Gewohnheiten von selbst.
Wenn man versucht, Unruhe loszuwerden, um Ruhe zu finden, wird dadurch die Unruhe nur umso größer. 
Solange man der einen oder der anderen Seite verhaftet bleibt, sieht man nicht, dass alles eins ist. 
Und wenn man nicht im Einen lebt, findet man weder mit dem einen noch mit dem anderen Zufriedenheit. 
Wenn man das Sein erfassen will, entzieht es sich jeder Fassbarkeit. 
Wenn man Leere wahrnimmt, ist es keine Leere. 
Je mehr man redet und denkt, umso größer ist die Verwirrung.

Wenn man zum Ursprung zurückkehrt, der vor den Gedanken ist, gibt es nichts, das man nicht durchschaut. 
Wenn man Objekten und Ideen hinterherläuft, geht der Ursprung verloren. 
Auch wenn es nur die Absicht gibt, zum Ursprung zurückzukehren, entfernt man sich schon von der ursprünglichen Leere. 
Alle Objekte und Ideen, die innerhalb dieser Leere wahrgenommen werden, sind Illusionen.
Suche daher nicht nach der Wahrheit, sondern gib nur alle Meinungen auf. 
Bleibe nicht in dualistischen Sichtweisen gefangen und hör auf, nach etwas zu suchen. Wenn es auch nur die kleinste Spur von richtig oder falsch gibt, ist der Geist in einem Labyrinth verloren. 
Zwei gibt es nur, wenn es eins gibt, aber auch am Einen sollte man nicht festhalten. 
Wenn das unterscheidende Denken nicht auftaucht, ist alles unschuldig und fehlerlos und es gibt keine Probleme. 
Wenn nichts auftaucht, ist da auch kein Geist.
Wenn alle Objekte verschwinden, verschwindet auch der Geist, der sie wahrnimmt. 
Was der Geist nicht wahrnimmt, hört auf zu existieren.
Objekte existieren nur, wenn ein Subjekt sie wahrnimmt. 
Wenn man die gegenseitige Abhängigkeit der beiden versteht, sieht man, dass ursprünglich alles leer ist. 
Geist und Objekt sind nicht unterscheidbar, weil alles, was wahrgenommen wird, der Geist ist. 
Wenn man nicht zwischen gut und schlecht unterscheidet, verfällt man nicht in Einseitigkeit und Vorurteile.
Gelassenheit hat nichts mit schwer oder leicht zu tun, aber Leute mit kleinen Meinungen sind voller Ehrgeiz und Selbstzweifel. 
Je mehr man eilt, umso langsamer geht es. 
Wenn man an irgendetwas festhält, verfehlt man den Weg. 
Wenn man loslässt, ist alles so, wie es sein soll – in ständiger unaufhörlicher Veränderung.
Alles dem Lauf der Dinge zu überlassen, ist der Weg der Gelassenheit. 
Vor einem weiten Horizont verschwinden alle Sorgen und Nöte. 
Es ist die Natur des Denkens, frei zu fließen. 
In Meditation zu versinken, führt zu nichts und ist vergebliche Mühe. 
Was nützt es, mit dem einen Freund zu sein und das Andere zu meiden? 
Gelassenheit bedeutet, auch die Welt der Sinne und Gedanken nicht abzulehnen. 
Auch Sinne und Gedanken so zu akzeptieren, wie sie sind, ist der Weg des Soseins. 
Der Weise versucht nichts zu erreichen.
Der Dumme bindet sich selbst. 
Das Universum kennt keine Diskriminierung, aber wir klammern uns an dieses und jenes. Mit dem Denken das Denken kontrollieren zu wollen, ist allergrößter Unsinn. 
Aus der Verwirrung des Geistes entstehen Himmel und Hölle. 
Sich aus der Verwirrung zu befreien, heißt frei von Vorlieben und Abneigungen zu sein. 
Alle Ideen sind nichts als selbst gemachte Fantasiegebilde. 
Wie Seifenblasen – Unsinn, sie fangen zu wollen. 
Verlust und Gewinn, richtig und falsch, wirf das alles auf einmal weg. 
Wenn man immer wach ist, verschwinden alle Träume von selbst.
Wenn das unterscheidende Bewusstsein nicht auftaucht, ist alles so, wie es ist.
So, wie es ist – das ist das tiefste Mysterium. 
Es bedeutet, augenblicklich alles zu vergessen. 
Wenn man alles mit den gleichen Augen sieht, kehrt man zum Sosein zurück.
Wenn man nicht urteilt, kann man auch nichts vergleichen.
Bewegung kommt zur Ruhe, daher ist es keine absolute Bewegung. 
Aus Ruhe wird Bewegung, daher ist es nur relative Ruhe.
Das Eine beinhaltet schon das andere und beide können nicht getrennt voneinander existieren.
Konsequent zu Ende gedacht, kann man letztlich nichts definieren.
Keine Theorie erfasst die Realität. 
Wenn man mit allem eins ist, hört alles Tun auf.
Unzufriedenheit und Zweifel verschwinden und wahre Gelassenheit ist möglich.
Augenblicklich sind wir vollkommen frei, hängen an nichts und alles geschieht gemäß seiner natürlichen Funktion.
Intelligenz, Wissen, Erkenntnisse und Erfahrungen sind dann bedeutungslos. 
In der Welt des Soseins gibt es weder Selbst noch Anderes.
Um direkt in diese Welt einzutreten, sage einfach: „Nicht zwei“.
Wenn es nicht zwei gibt, ist alles gleich und nichts ist ausgeschlossen.
Die Weisen aller Zeiten haben das als Ursprung der Dinge erkannt.
Der Ursprung der Dinge hat nichts mit Zeit zu tun – ein einzelner Gedanke ist tausend Jahre.
Er hat nichts mit nah oder fern zu tun – alles liegt direkt vor unseren Augen.
Das Winzigkleine ist groß, wenn es keine Definitionen gibt.
Das Riesengroße ist klein, wenn man keine Grenzen sieht.
Sein ist Nichtsein; Nichtsein ist Sein.
Hör auf, an intellektuellem Verstehen festzuhalten.
Das Eine enthält alle Erscheinungen.
Alle Erscheinungen sind eins. 
Wenn man alles lässt, wie es ist, braucht man sich nicht über Unvollkommenheit zu sorgen.
Der Geist der Gelassenheit ist nicht dualistisch.
„Nicht Zwei“ ist der Geist der Gelassenheit.
Alle Worte verfehlen, was nicht in Raum und Zeit ist.